Also erst der Schluckauf, der laut und deutlich aus der Frau heraushickste und auch klang als leide sie schon länger darunter, hat den Grad der Mitteilungswürdigkeit derart erhöht, dass ich nun einen kleinen Text zu dieser Frau schreiben werde.
Ich hatte sie schon bei meinem letzten Besuch in Focșani gesehen. Sie stand vor demselben Gebäude wie heute bei Temperaturen kurz über Null, neben sich eine Digitalwaage auf dem Gehsteig. Es war wohl zu kalt zum Sitzen. Es war generell für alles zu kalt an diesem Tag im Februar. Sie tat mir leid.
Dabei wähnte ich dieses Business, mit einer Personenwaage an der Straße stehend – im aktuellen Fall auf Pappe sitzend – um gegen einen kleinen Betrag Passantinnen und Passanten ihr Körpergewicht zu verraten, als längst ausgestorben. Schließlich fluten die Produkte einer großen östlichen Handelsmacht nicht nur einschlägige Elektronik-Fachmärkte, sondern regelmäßig auch die Nonfood-Bereiche jedes Lebensmitteldiscounters mit günstigen elektronischen Artikeln aller Art. So gibt es auch Waagen, zumeist pünktlich im Frühjahr zum Auftakt der alljährlichen Abspeck-Fasten-Bikinifigur-Aktionen. Ich bin schlicht davon ausgegangen, dass es in nahezu allen europäischen Haushalten, in denen Menschen ihr Gewicht kontrollieren möchten, solche Kilogrammanzeiger gibt.
Heute denke ich jedoch, wenn gar nichts zu verdienen wäre, hätte diese Frau doch die Kälte im Februar und das öffentliche Hicksen am heutigen Märztag sicher auch gerne vermieden.
Vor vielen Jahren habe ich diese Art des Straßengeschäfts öfter in Ankara beobachtet. Kinder neben Waagen, ein gängiges Bild direkt gegenüber des Gucci-Accessoire-Shops in der Schickimicki-Einkaufsmeile im Zentrum. Ich weiß, dass ich von einem kleinen Mädchen ein Dia besitze (jaa, es gibt sie noch, physische Diapositive in Kunststoffrähmchen). Es ist vielleicht sechs Jahre alt auf diesem Foto und wartet neben ihrer Waage auf Kundschaft.
Kinderarbeit trifft Altersarmut. Ich denke Not ist das verbindende Stichwort. Ohne Not macht man das nicht, oder? Ich frage mich, wie sich jemand fühlt, der viele Stunden des Tages in dieser Position verharrt. Eine ältere Frau – vielleicht so alt wie ich? Nichts lesend, ohne Tasche, keine Thermosflasche, alleine, mit der Personenwaage, auf mehreren Schichten Pappe sitzend, vermutlich frierend. Und das Mädchen? Ohne alles, kein Essen oder Trinken, alleine, unter eilenden oder bummelnden Fremden, hockend, neben der Waage, in Ankara im Sommer, erbarmungsloser Hitze ausgesetzt.
Fühlt man sich verlassen? Geborgen in der bekannten Szene? Ist man neidisch auf andere, denen es besser geht, die nicht so ihre Tage verbringen? Guckt die Frau alle zehn Minuten auf ihre Uhr? Hat sie eine deadline und geht nach 6,5 Stunden Wiegeservice-Angebot nach Hause? Oder wenn sie mindestens 50 Lei (etwa 10 Euro) verdient hat? Trägt sie überhaupt eine Uhr? Kauft sie sich von dem Geld gleich etwas zu essen? Geht sie im Einkaufszentrum auf die Toilette? Kommt jemand und kontrolliert ihre Lizenz? Benutzt sie selbst die Waage zu Hause? Fragen über Fragen …